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Aufzeichnungsblatt 3
Beschreibung: vierflüglige Schmetterlinge
Name: Quatro Ala
Vorkommen: Felsenhöhle
Verhalten / Eigenschaften: Lebt auf Kristallen
Beschreibung: zweiköpfige Wasserschlange
Name: Due Rallegrare
Vorkommen: Felsenhöhle
Verhalten / Eigenschaften: Lebt im Rudel
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Die Höhle
Ich hatte mich an die Bordbibliothek gemacht und mit den Tagebuchaufzeichnungen von Erich Mühsam begonnen. Am 22. August 1910 heißt es darin:
Unsre Zeit ist bei Gott nicht minder armselig, unsre Regierungen nicht minder jämmerlich, unsre Politik nicht minder chikanös, knechtschaffen und vormärzlich. Nur eins unterscheidet unsre Tage von Varnhagens: heut ist auch das Volk interesselos, und die Geistigkeit nimmt schon garnicht teil an allem was vorgeht! – Ich werde in dies Tagebuch nicht viel Zeitprophetisches zu vermerken haben.
Es ändert sich also nichts. Gar nichts. Aber das Lesen gab mir einen roten Faden. Der Oktant hatte meinen Körper zur Ruhe kommen lassen, dafür verspottete mich mein Herz nun umso hämischer.
Während meines Aufenthaltes hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, täglich eine Stunde zu schwimmen. Als das Wetter gegen Mittag besser wurde, machte ich mich auf den Weg. Am See angekommen stieg in das Wasser und tauchte wie üblich eine Zeit lang am Seegrund entlang. Diesmal fiel mir unter Wasser eine Art Eingang im Felsen auf, den ich bisher übersehen hatte. Ich schwamm nach oben, um meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen und tauchte anschließend in den Eingang hinein. Er verlief circa drei Meter schlauchartig in den Felsen, weitete sich dann und mündete in einer zehn mal zehn Meter breiten unterirdischen Höhle, die von außen nicht zu sehen war. Die Höhlendecke war über und über mit Kristallen bedeckt, die in einem künstlichen Licht funkelten, von dem nicht klar wurde, woher es kam. Auf den Kristallen saßen kleine Schmetterlinge mit vier Flügeln und gaben einen leisen Summton von sich. Um mich herum im Wasser streiften mich bunte Wasserschlangen mit zwei Köpfen. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine Steintreppe aus dem Wasser und hinter einem Torbogen befand sich eine weitere Höhle. Diese war im Gegensatz zur letzteren karg und schmucklos. In der Mitte befand sich ein Art Altar, der rund und mit roten Samt bezogen war. Es war nicht ersichtlich, was hier stattfand. Es befanden sich keine Gegenstände auf dem Altar und ich konnte auch in den Ecken und Winkeln der Höhle nichts ausmachen, was auf eine Zeremonie hindeutete. Ich wollte grade wieder ins Wasser steigen als ein brummender, ansteigender Ton aus dem Fußboden der Höhle kam. Ich dreht mich um und der Altar klappte auseinander und aus seiner Mitte fuhr ein kleiner, schwarzer Kasten nach oben. Ich fühlte mich beobachtet, trotzdem wollte ich den Kasten öffnen. Ich schlich um ihn herum, konnte aber keinen Mechanismus entdecken. Schlussendlich griff ich einfach danach - und zuckte zusammen. Wem immer dieser Kasten gehörte, er hatte ihn mit Strom vor unbefugtem Zugriff gesichert. Warum aber präsentierte er sich dann so ungeniert? Während ich um mich blickte fiel mein Blick auf den Torbogen durch den ich gekommen war. An einer Stelle war ein Auge eingeritzt, dessen Iris ein leuchtender Kristall bildete. Es erschien mir zu einfach, trotzdem berührte ich die Iris und tatsächlich - der Kasten öffnete sich. In ihm lag ein Samtbeutel und in diesem befand sich - sehr zu meinem Ärger - ein weiterer Haufen mit silbernen Wörtern. Ich nahm den Beutel an mich und stieg wieder in das Wasser.
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Oh.
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Tapatuckel
Die Ortschaft bestand zum größten Teil aus heruntergekommenen Holzbaracken, die entlang einer sandigen Hauptstraße verliefen. In regelmäßigen Abständen bogen kleine, düstre Gassen ins Nirgendwo ab. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen und die meisten Fensterläden waren geschlossen. Wie bestellt setzte der grüne Regen ein. Ein schlechter Western hat gerade noch gefehlt. Lustlos trottete ich vorwärts und nach zehn Metern gelangte ich an ein Haus, das wohl ein Geschäft darstellen sollte. Das Ladenschild trug die Aufschrift „Hannas“, was genauso gut auf eine Kneipe hinweisen konnte. Ich öffnete die Tür und meine Vermutung erwies sich als richtig: Ein Geschäft. Genauer gesagt, der übelste Trödelladen, den man sich denken konnte. Auf einem dunklen Holzregal lagen Schädel und Schrumpfköpfe (echt oder gefälscht) der letzten zwanzig intergalaktischen Kriege. Darüber und darunter kupferne Töpfe und Pfannen, Leuchtkugeln, ausgestopfte Echsenvögel, alte Telekommunikatoren, ein Ballkleid, grüne und blaue Glaskolben, Leuchtstifte, Holzmasken, Gummi-Schuhe, Lederpeitschen, Spielzeugdrachen, Wechseldatenträger, Katzenfutter, Kabel, Packpapierrollen, Adapter, eine pinke Stoff-Sonnenblume, Scherenschnitte, Badezimmerkacheln - und in der Mitte saß sie. Sie musste mal eine echte Schönheit gewesen sein, doch nun war ihr orangenes Gesicht von Falten bedeckt und eines ihrer drei Augen war bereits erblindet. Sie trug ein verwaschenen Kleid mit Blümchenmuster und Hausschuhe aus Filz. Ich machte keine großen Umstände und kam gleich zur Sache. „Ich brauche eine Waffe. Am besten einen Hochfrenquenzstrahler“. Als wäre dies das Natürlichste der Welt verschwand die Alte in einem Hinterraum und kam kurz darauf schlurfend zurück. Sie legte die Waffe auf die Ladentheke. „Kann ich ihn testen?“, fragte ich. Sie nickte. Ich trat vor die Tür und feuerte ein paar Mal in die Luft. Die Waffe funktionierte einwandfrei. „Wie viel?“, fragte ich, als ich den Laden wieder betreten hatte. „Zweihundertdreissig“, sagte die Alte. Was nicht einmal besonders teuer war. Ich erstand die Waffe und kehrte wieder auf die Hauptstraße zurück. Ich wusste nicht so recht, was ich nun mit mir anfangen sollte. Lebensmittel braucht ich eigentlich keine und dieses Kaff war schlimmer als der Taxifahrer angedeutet hatte. Ich bog um die Ecke und fand mich in einer der schmuddeligen Seitengassen wieder. Am Ende der Gasse verwies ein rotes Schild mit Kussmund auf den Eingang eines Bordells. Ich zögerte nicht lange und beschloss meiner Steinkrieger-Obsession ein Ende zu bereiten. Im Eingangsraum des Bordells saßen fünf humanoide Body-Builder aus der Klonfabrik von Sirius 2. Zu blonde Haare, zu viele Muskeln, zu viel rotes Ledersofa. In einem schummrigen Nebenraum entdeckte ich einen edlen, schlanken Oktanten mit einer schönen dunkelbraun-goldenen Hautfarbe. Er lehnte lässig an der Wand und demonstrierte beiläufig an einer Kunststoffpuppe wozu seine acht Arme fähig waren. Ich nickte ihm wortlos zu und wir stiegen eine enge, schlecht beleuchtete Treppe nach oben. Ich ließ ihm den Vortritt und schloß die Tür…
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Mike
Ich hatte mehr Glück als angenommen. Als ich am Vormittag das Blauschiefermassivs überquerte, flog ein Lufttaxi so nah an mir vorbei, dass ich es heran winken konnte. Eigentlich wollte ich erst morgen die Ortschaft erkunden, aber so würde ich mir den Fußweg sparen. Der Taxifahrer war ein mittelalter, rosafarbenen Oktant, der mich mit „Na, Süße, wo soll’s denn hingehen?“, begrüßte. Mit zwei seiner Arme hielt er das Steuer, zwei machten sich mit einen Hornkamm sein leicht schütteres Haar zurecht, zwei drehten Däumchen und zwei waren wohl unter seinem wuchtigen Körper verschwunden. „Ich könnte eine kleine Rund-Tour durch die Umgebung gebrauchen und anschließend nach Kapatuckel“, sagte ich. „Watt willst denn in DEM Scheißkaff, Süße?“, platzte der Oktant heraus. Er lachte schallend seinen mächtigen Körper waberte und zitterte. An der Frontscheibe seines Lufttaxis hing eine grüne, runde Plüschfigur mit zwei Knopfaugen, die durch die Erschütterung ebenfalls zu baumeln begann „Ich will es langsam angehen lassen. Halbe Stunde Rund-Tour und dann absetzen?“, frage ich. Der Oktant nickte und kapierte, dass mir nicht nach quatschen war. Der Paylator berechnete die ungefähren Kosten und nachdem ich zugestimmt hatte flogen wir los - zunächst über den Wechselfarbenwald. Hinter dem Wald überflogen wir ein mittelgebirgsartiges Gebiet, dass von kargen Heidelandschaften geprägt war. Graue Felsbrocken unterbrachen das zarte lila der Heide und einzelne, blätterlose Bäume hoben sich dunkel vom Untergrund ab. Die Heidelandschaft mündete in eine Dünenlandschaft, welche am Meer endete. Aus unerklärlichem Grund war ich über das Meer verblüfft. Ich hatte mir den Planeten meerlos vorgestellt. Kleine Schiffe schwammen in einer Art Seehafen neben einem bunten Marktplatz mit angrenzenden Häusern. Das Taxi drehte und wir flogen nun gen Nordosten. Wir passierte das Blauschiefermassiv und am Echsenvogelbaum wagte ich nicht nach unten zu sehen. „Was ist mit dem Krieger da unten?“, fragte ich den Taxifahrer. Dieser versuchte unbeteiligt zu schauen und brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Offenbar hatte jetzt er keine Lust zu reden. „Lange Geschichte, Süße, lange Geschichte“. Ich fragte nicht weiter nach. Weiter nördlich lag wiederum ein Waldgebiet, das sich aber grundlegend von dem Wechselfarbenwald, den ich kannte, unterschied. Dieser Wald bestand größtenteils aus Sträuchern und Kakteen, wobei ich mich fragte, ob Wald eigentlich die korrekte Bezeichnung für diese Art von Landschaft war. Einige Kakteen standen in voller Blüte, andere wirkten seltsam verdörrt. Östlich hiervon lag eine flache, sattgrüne Landschaft mit mehreren großen Seenplatten, die aus der Luft wunderschön aussah. Ich nahm mir vor, meine nächste Wanderung hier beginnen zu lassen, denn die Taxi-Preise waren zivil und ich würde auf die Dauer keine großen Erkundungen machen, wenn ich mich nur zu Fuß bewegte. Wieder wendete das Taxi und nahm nun Kurs auf Tapatuckel. Wir erreichten die Ortschaft nach ungefähr zehn Minuten. Ich verbuchte den fälligen Betrag über mein Kommunikations-Armband auf den Paylator und stieg aus dem Lufttaxi. Der Taxifahrer reichte mir seine Verbindungsdaten und sagte: „Ich heiß’ übrigens Mike. Falls Du mal was brauchst, Süße.“
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Aufzeichnungsblatt 2
Beschreibung: silbrig-grüner Fisch
Name: Poissons viande bleu
Vorkommen: Im Bach beim Echsenvogelbaum
Verhalten / Eigenschaften: Hat vier Augen. Tritt im Schwarm auf, Fleisch hellblau und lecker
Beschreibung: Kakteenstrauch
Name: Tricolore TricTrac
Vorkommen: Auf der Wiese beim Echsenvogelbaum
Verhalten / Eigenschaften: Duftet nach Orangen
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Sail
Schweißgebadet wachte ich auf. Es war bereits nach Mitternacht. Ich hatte von ihm geträumt. Ich hatte von dem Steinkrieger geträumt. Wie wir kämpften, wir wir ineinander verschlungen waren, wie ich mich an ihn krallte. Er biß mir ins den Hals und saugte sich darin fest, bis ich nachgab und mir schwarz vor Augen wurde. Benommen rieb ich mir Gesicht und den Nacken und schüttelte meinen Kopf. Ich wollte seine Präsenz vertreiben. Aber das Verlangen blieb. Mit angespanntem Körper, wusste ich nicht, ob ich träumte oder nicht. Es fühlte sich so nah an. Es fühlte sich so real an. Ich kletterte aus der Kapsel, um mich an der Nachtluft zu kühlen. Unruhig ging ich auf und ab und suchte nach einer Linderung, die nicht kam. Gott… Vor Jahren hatte ich einen Film gesehen in dem das verbotene Verlangen in ein Loch in einen Baum gesprochen wurde und so flüsterte ich in der Dunkelheit vor mich hin und lief durch die Nacht bis an den See. Tief tauchte ich in das Wasser und tauchte immer weiter, dicht am Seeboden entlang. Aus der Tiefe ließ ich tausend kleine Blasen zur Oberfläche steigen. Unter einem großen, runden Mond kreiste ein Echsenvogel.
Am nächsten Morgen hielt ich mich an meinen Entschluss und verfasste eine Telenachricht an M. Wir kannten uns noch aus Schulzeiten und hatten uns auf einer Geburtstagsparty meines Bruders kennen gelernt. Ich wollte romantische Briefe, er schenkte mir Schriften von Proudhon, was im Nachhinein betrachtet der bessere Deal gewesen war.
Lieber M.,
ich nehme an, dass die üblichen Klatschkanäle Dir mein Verschwinden schon zugetragen haben. Ich bin jetzt gut seit einer Woche hier und leide wohl unter den Wehwehchen, die man in einer neuen Umgebung erwarten kann. Was mich jedoch beunruhigt: Ich habe nicht nur keine Namen für das, was um mich herum passiert (das war anzunehmen), vielmehr habe ich auch keine Sprache für das, was in mir passiert. Das macht mir Angst.
Wie Du dir denken kannst, schreibe ich nicht ganz uneingennützig. Bitte versuche den Betrag von 10.000 Hobedos von meinem Konto abzuheben und transferiere den Betrag auf die Kapsel. Ich habe keine Ahnung, ob das als Zahlungsmittel akzeptiert wird, aber die Vorstellung völlig mittellos zu sein, beunruhigt mich.
Und, Du, schreibe mir von deiner Lektüre. Obwohl ich hier eine ganz herrliche Bordbibliothek habe, habe ich noch nicht eine Zeile gelesen - ist das zu fassen? Bevor ich abhob las ich eine Abhandlung über die Geschichte des mittleren Raumes. Ich erhoffte mir, Hintergründe zu der großen Wanderungsbewegung zu erhalten. Wie sind denn die Verhältnisse zur Zeit? Ach, was frage ich. Bis auf weiteres warten wir also geduldig darauf, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Revolution gebären möge - aber seien wir ehrlich: Da jebiert ja jar nüschst. Oh. Und schau, der Kapitalismus treibt eine schöne Blüte nach der nächsten! Schreibe mir bald, ja? Das wird helfen, meinen Kopf bei Verstand zu halten.
Gruß und Kuss
K.
Ich nahm eine zweite Tasse Milchkaffee aus dem Nahrungsreplikator und drückte auf Senden. Ich überlegte, an welcher Stelle ich heute nach Pflanzen suchen sollte. Die Umgebung in der Nähe des Steinkriegers schied aus. Auch der Wechselfarbenwald bereitete mir seit dem gestrigen Jagderlebnis Unwohlsein. Blieb also nur der See. Ich nahm ein Stück Marmorkuchen und eine Flasche Wasser als Proviant und lief los. Ich kannte den Weg schon fast auswendig und so hätte ich die erste Entdeckung fast übersehen. In einer Spalte auf dem Blauschiedermassiv wuchs rötliches Gras. Ich pflückte etwas davon und zerrieb es in den Fingern. Es duftete nach Pfefferminz. Pepperredmint. Ich leckte an meinen Fingern und es schmeckte auch so. Am See angelangt fielen mir die „Seerosen“ auf, die sich am südlichen Ufer in Anhäufungen sammelten. Ich wunderte mich, dass sie mir bisher nicht aufgefallen waren und ich ging ein Stück näher heran. Ich war überrascht: In der Mitte ihrer Blätter, unterhalb der Blüte, saß jeweils ein Viererpaar der roten Käfer, die ich auf dem Blauschiefermassiv gesehen hatte. Die Blätter der Seerosen hatten waren dunkelgrün und leicht pelzig. Die Blüten waren strahlend blau und überproportional groß. Ich nannte Sie Water Beetlely. Gerade als ich mit den ersten Aufzeichnungen fertig war, setzte schnell und heftig der grüne Regen ein. Scheiße! So viel zu meinen tollen Tages-Plänen. Ich raffte meine Aufzeichnungen zusammen und hetzte übel gelaunt zur Kapsel zurück. Dort rubbelte ich mir die Haare mir einem Handtuch trocken und schenkte ich mir einen Whiskey ein. Die Aufzeichnungen waren feucht geworden und so fönte ich sie trocken und spannte sie zur Sicherheit zwischen zwei Leinen. Die Regentropfen schlugen gegen das Fenster der Kapsel und es schien als würde der Regen auch diesmal länger - vielleicht Tage - anhalten. (Und warum laufen die Regentropfen da nicht gerade herunter? Weil: „ Zwischen Tropfen und Scheibe entsteht eine Grenzflächenspannung, das heißt, auf die Wassermoleküle am Rand des Tropfens wirkt einerseits die Anziehung der benachbarten Wassermoleküle (Kohäsionskräfte) und andererseits die Anziehung der Moleküle der Glasoberfläche (Adhäsionskraft).“ Ach so). Ich ließ den Telekommunikatior Musik auflegen, schenkte mir ein zweites Glas ein und gab mich meiner düsteren Stimmung hin. Sail…
I made it in my mind because…
———
This is how an angel cries
Blame it on my own sick pride
Blame it on my ADD, baby! - Sail!
——
Maybe I'm a different breed
Maybe I'm not listening
So blame it on my ADD, baby - Sail!
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Der Bogen
Gestern Morgen flog wieder eines der silbrigen Flugtaxis am Horizont vorbei und ich musste langsam der Tatsache ins Auge blicken, dass ich nicht alleine war. Der Bordcomputer verriet mir, dass sich ca. vier Kilometer nördlich des Sees die ersten Ausläufer der Nord-Stadt befanden. Dort befand sich eine Ortschaft mit sechshundert Häusern, die sich Kapatuckel nannte. Ich zog in Erwägung, dort hin zu gehen, vor allem, weil ich Waffen benötigte. Die Energiestrahler hatten den Flug nicht überlebt und seit der Begegnung mit dem Steinkrieger fühlte ich mich nicht mehr sicher. Da meine Abneigung zu sprechen aber immer noch groß war, machte ich mich daran, die einzige Waffe zu bauen mit der ich mich auskannte: Einen englischen Langbogen. Das Holz hierfür holte ich aus dem Wechselfarbenwald und der Nahrungsreplikator lieferte mir nach einigem Gezicke eine Bogensehne und tannengrün gefärbtes Wildleder. Zunächst fertigte ich die beiden Wurfarme aus Holz, dann das Mittelstück, das Verbindung und Griff war. Ich ließ mir Zeit und verzierte den Griff mit einer Schnitzerei in Form einer Meerjungfrau. In deinem letzten Leben warst Du ein Fisch, sagt meine Mutter. Anschließend arbeitete ich eine Pfeilauflage ein und feilte drei Zentimeter von den Spitzen entfernt die Kerben für die Bogensehne. Zum Schluss spannte ich die Sehne und verkleidete den Bogen mit Wildleder. Mir war klar, dass der Langbogen viel zu unhandlich war, um mich schnell verteidigen zu können, und so fertigte ich einen zweiten, einen kleinen Reiterbogen.. Hierbei verwendete ich ebenfalls Holz statt Horn. Ich stellte Pfeile aus Spaltholz her, das ich zuvor über dem Feuer trocknete und mit den eingesammelten schwarz-braunen Federn des Echsenvogels befiederte. Ich schoss zunächst auf nichts lebendiges. In einigen Metern Entfernung platzierte ich alles an altem Gerümpel, was ich in der Kapsel finden konnte und zielte darauf. Als ich einigermaßen treffsicher war, kippte ich die Silber-Wörter aus dem Samtbeutel, füllte ihn mit den Pfeilen, legte den Bogen über die Schulter und machte mich auf in Richtung Wechselfarbenwald. Ich spürte eine seltsame Erregung in mir. Ich war daran gewöhnt zu fischen, aber gejagt hatte ich noch nie. Ich stieg den Steilhang hinab und versteckte mich hinter einem mächtigen Baumstamm und verharrte ganz still. Nach zehn Minuten erblickte ich ein katzenartiges Tier mit dunkellila Fell, das in ca. fünf Meter Entfernung zwischen den Baumstämmen verweilte, um scheinbar eine Grube zu graben. Geräuschlos entnahm ich dem Beutel einen Pfeil und setzte zum Schuss an. Eine warme, wohlige Welle von Kraft durchfloß meinen Köper als der Pfeil geräuschlos durch die Luft glitt. Das Tier war auf der Stelle tot. Ich fühlte mich groß. Ich fühlte mich mächtig. Ich steckte die Arme gen Himmel, fletschte die Zähne und gab einen kehligen Laut von mir. Als ich das Tier über meine Schulter warf, lachte ich. Ich hatte mich lange nicht so gut gefühlt. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild einer weiteren Wildkatze, die ich mit bloßen Händen griff und würgte. Das Tier schrie und wand sich. Doch je mehr es sich wand, desto fester drückte ich zu, desto mehr verkrampften sich meine Finger, desto mehr steigerte sich in mir das.. das… ich hatte kein Wort dafür.
Später: Etwas passiert mit mir. Das geht so nicht weiter. Ich muss mich zusammen nehmen. Ich habe einen Ablaufplan der nächsten Tage erstellt. Morgen: Aufnahme weiterer Pflanzen und Tiere, Schwerpunkt Pflanzen. Übermorgen: Aufnahme weiterer Pflanzen und Tiere, Schwerpunkt Tier. Überübermorgen: Erkundung des Weges zur Ortschaft Kapatuckel. Und: Ich werde morgen nach Hause schreiben. Diese Isolation kann nicht gut sein.
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Telenachricht 1
Ich habe eine Tele-Nachricht erhalten. Bei meinem überstürzten Aufbruch hatte ich vergessen, den Tele-Kommunikator abzuschalten. Gut, nun wissen also alle, wo ich bin. Sie ist aus der Personalabteilung. Sie werden sich nach der Ortung meiner Standortdaten denken können, dass ich nicht schnell zurück sein werde. Ja, man wisse, die Arbeitsbelastung sei in letzter Zeit sehr hoch gewesen. Ob ich nicht an einer Seelenklärung teilnehmen wolle? Sollte ich mich anders entscheiden, hätte man Verständnis. Man wünscht mir alles Gute. Jederzeit willkommen. Jederzeit.
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Umgebungskarte
Ich sah sie jedem Mittag von Westen über das Blauschiefermassiv fliegen und heute wollte ich erkunden, wohin die Reise der Echsenvögel ging. So machte ich mich auf und lief den Bach diesmal die andere Richtung entlang. Da das Wasser kühl und angenehm lockte, zog ich meine Schuhe aus und schlenderte durch das Bachbett. Die Sonne schien unaufgeregt und freundlich während kleine Blumen am Rande des Baches in weichen Luftströmen nickten. Nach einer Viertel Stunde kam ich, früher als angenommen, an mein Ziel. Inmitten einer Wiese mit moosigen Steinen stand ein wuchtiger, alter Baum mit einer mächtigen Krone. In ihm saßen hunderte von Echsenvögeln, dicht an dicht gedrängt. Sie rempelten einander an, verdrängten sich von Zeit zu Zeit, so dass der ganze Baum eine einzige Bewegung zu sein schien. Links neben dem Baum stand in fünf Meter Entfernung eine Staue aus dunkelgrauem Marmor; die eines nackten Kriegers mit mittellangem Haar. Er übte eine eigentümliche Präsenz auf die Umgebung aus. Ich trat näher an ihn heran und wurde gleichzeitig wie in einem Sog von ihm angezogen und abgestoßen. Der Krieger verströmte Kraft und war von atemberaubender Schönheit, so dass etwas in mir nachgeben wollte. Etwas wollte, dass er mich packt. Etwas, wollte, dass ich mich in ihm auflöse. Dann sah ich seinen Blick. Die Augen waren hart und kalt und unerbittlich. Mein Atem stockte und ich wollte rennen. Um mich herum erfüllten die wilden Schreie der Vögel die Luft. Dreh dich um. Dreh dich langsam um und tue einen Schritt. Einen Schritt nach dem anderen. Du darfst nicht rennen. Rechts, links, rechts, links. Halte Dich an deinem Beutel fest und geh. Geh. Was immer es war: Dieser Krieger darf niemals zum leben erweckt werden. Niemals. Ich spürte seinen Blick im Nacken während ich mich entfernte. Je weiter ich von der gespenstischen Szene weg kam, desto einfacher wurde das atmen. Nach einiger Entfernung löste sich der Druck in der Brust und ich tat ich einen kleinen Sprung - befreit! Ich stieg wieder in den Bach. Wie ich zurück kommen sollte, wusste ich nicht, aber das war egal. Ob er der Herr dieser Vögel war? Irgendetwas berührte mich am Fuß und ich zuckte zusammen. Ich sah an mir herunter und dort schwamm ein Schwarm großer, silbrig grüner Fische. Ich griff mit der bloßen Hand hinein und hielt einen in die Luft. Er war lang und schlank und hatte vier Augen. Ich war diesmal schlauer gewesen und hatte das Analysegerät eingesteckt. Der Fisch schien genießbar zu sein. Ich nahm ihn an Ort und stelle aus, jedenfalls so, wie es mir anatomisch sinnvoll erschien und grillte ihn auf einem Feuer aus gesammelten Ästen. Sein Fleisch war hellblau und zart. Nach dem Essen untersuchte ich die Wiese genauer. Sie war größtenteils von Gras und kleinen Blumen bewachsen. Auffällig erschien mir ein kleiner Strauch, dessen Stamm kakteenartig wirkte und der Blüten in drei Farben hatte: gelb, flieder und himmelblau. Die Blüten dufteten süßlich, vielleicht ein wenig wie Orangen. Ich werde ihn Tricolore Trictrac und die Fische Poissons viande bleu nennen. Der Krieger hat keinen Namen. Er existiert außerhalb des Sagbaren.
Später: Ich habe eine erste Umgebungskarte gezeichnet. Man darf nicht den Überblick verlieren.