(m.o.n.d.) geschichten

Der Schuss

Es war eine Mondnacht. Eine helle Nacht. Ich hatte mich innerlich fast eine Woche darauf vorbereitet. Jetzt griff ich den Bogen und ging festen Schrittes und ohne zu zögern Richtung Echsevogelbaum. Ich konnte den Steinkrieger fühlen bevor ich ihn sehen konnte. Du kannst mir nichts, DU kannst mir nichts. Ich positionierte mich fünf Meter vor ihn, spannte den Bogen und zielte direkt auf sein Herz. Der Pfeil prallte an ihm ab. Obwohl ich genau gewusst hatte, dass das passieren würde, fühlte ich mich gedemütigt. Trotzig spannte ich einen weiteren Pfeil und schoß. Und noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Tränen liefen mir über das Gesicht. Als ich zur Kapsel zurück kehrte saß Folt vor der Tür. Du hast es gewusst. „Ja“, sagte Folt. Wortlos setzte ich mich neben ihn und wir blickten stumm in die Nacht.

In den folgenden Tagen war ich krank. Ich fühlte mich schlaff und kraftlos und schlief fast den ganzen Tag. Folt blieb bei mir in der Kapsel und versorgte mich mit Tee und Obst aus dem Nahrungsreplikator. Während ich schlief las er in der Bordbibliothek. Nach drei Tagen fühlte ich mich besser und Folt gab mir eine kräftige Suppe zu essen. „Du wirst es wieder tun“, sagte er. Ungläubig starrte ich ihn an. „Ganz sicher nicht. Warum sollte ich?“, fragte ich ihn, „Weißt Du, er hat viel Macht. Und er hat diese Macht auch über Dich. Und er interessiert sich für Dich, sonst wärest Du schon tot“. Ich sah ihn verdutzt an. „Sagt Dir eigentlich das Konzept der Projektiven Identifizierung was?“, fragte Folt. Ich erinnerte mich dunkel an dieses Konzept aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Man schrieb diesen Prozess damals Personen mit so genannten Borderline-Stöungen zu. Im Prinzip ging es darum, Teile des Selbst abzuspalten und in einer anderen Person wahrzunehmen. „Erinnerst Du dich an das Gefühl als Du die Wildkatze getötet hast und an deine Lust als Du dich dem Oktanten hingabst“?“ Ich hatte vergessen, dass Folt meine Gedanken lesen konnte. „Du hast diese Begehren stellvertretend für ihn, weil er sie nicht haben kann“. Ungläubig lachte ich ihn aus: „Das ist doch komplett absurd! Du hast doch ne Klatsche!“ Gleichzeitig schauderte es mich, weil ich mich daran erinnerte, dass ich sowas tatsächlich schon einmal erlebt hatte. Vor Jahren hatte B. die Schmerzen, die er nicht haben konnte in mir erzeugt, um sie wahrnehmen. Als es das erste Mal passierte, war ich von dem Erlebnis komplett geschockt. Noch geschockter war ich, als ich später las, worum es sich handelte. Wäre das Erlebnis nicht so eindrücklich gewesen, hätte ich das ganze als Spinnkram abgetan und im Grunde versuchte ich noch immer, das so zu sehen. „Wie Du meinst. Ich muss jetzt gehen.“ Folt griff nach seiner Jacke und ich sah, dass er meine Gedanken missbilligte. „Ich schaue in einer Woche wieder nach Dir“. Er ging und ich war froh, dass er wieder kommen wollte. „Und was ist dann bitteschön meins und was ist seins?“, murmelte ich vor mich hin als ich hinter ihm her blickte.