Sail
Schweißgebadet wachte ich auf. Es war bereits nach Mitternacht. Ich hatte von ihm geträumt. Ich hatte von dem Steinkrieger geträumt. Wie wir kämpften, wir wir ineinander verschlungen waren, wie ich mich an ihn krallte. Er biß mir ins den Hals und saugte sich darin fest, bis ich nachgab und mir schwarz vor Augen wurde. Benommen rieb ich mir Gesicht und den Nacken und schüttelte meinen Kopf. Ich wollte seine Präsenz vertreiben. Aber das Verlangen blieb. Mit angespanntem Körper, wusste ich nicht, ob ich träumte oder nicht. Es fühlte sich so nah an. Es fühlte sich so real an. Ich kletterte aus der Kapsel, um mich an der Nachtluft zu kühlen. Unruhig ging ich auf und ab und suchte nach einer Linderung, die nicht kam. Gott… Vor Jahren hatte ich einen Film gesehen in dem das verbotene Verlangen in ein Loch in einen Baum gesprochen wurde und so flüsterte ich in der Dunkelheit vor mich hin und lief durch die Nacht bis an den See. Tief tauchte ich in das Wasser und tauchte immer weiter, dicht am Seeboden entlang. Aus der Tiefe ließ ich tausend kleine Blasen zur Oberfläche steigen. Unter einem großen, runden Mond kreiste ein Echsenvogel.
Am nächsten Morgen hielt ich mich an meinen Entschluss und verfasste eine Telenachricht an M. Wir kannten uns noch aus Schulzeiten und hatten uns auf einer Geburtstagsparty meines Bruders kennen gelernt. Ich wollte romantische Briefe, er schenkte mir Schriften von Proudhon, was im Nachhinein betrachtet der bessere Deal gewesen war.
Lieber M.,Ich nahm eine zweite Tasse Milchkaffee aus dem Nahrungsreplikator und drückte auf Senden. Ich überlegte, an welcher Stelle ich heute nach Pflanzen suchen sollte. Die Umgebung in der Nähe des Steinkriegers schied aus. Auch der Wechselfarbenwald bereitete mir seit dem gestrigen Jagderlebnis Unwohlsein. Blieb also nur der See. Ich nahm ein Stück Marmorkuchen und eine Flasche Wasser als Proviant und lief los. Ich kannte den Weg schon fast auswendig und so hätte ich die erste Entdeckung fast übersehen. In einer Spalte auf dem Blauschiedermassiv wuchs rötliches Gras. Ich pflückte etwas davon und zerrieb es in den Fingern. Es duftete nach Pfefferminz. Pepperredmint. Ich leckte an meinen Fingern und es schmeckte auch so. Am See angelangt fielen mir die „Seerosen“ auf, die sich am südlichen Ufer in Anhäufungen sammelten. Ich wunderte mich, dass sie mir bisher nicht aufgefallen waren und ich ging ein Stück näher heran. Ich war überrascht: In der Mitte ihrer Blätter, unterhalb der Blüte, saß jeweils ein Viererpaar der roten Käfer, die ich auf dem Blauschiefermassiv gesehen hatte. Die Blätter der Seerosen hatten waren dunkelgrün und leicht pelzig. Die Blüten waren strahlend blau und überproportional groß. Ich nannte Sie Water Beetlely. Gerade als ich mit den ersten Aufzeichnungen fertig war, setzte schnell und heftig der grüne Regen ein. Scheiße! So viel zu meinen tollen Tages-Plänen. Ich raffte meine Aufzeichnungen zusammen und hetzte übel gelaunt zur Kapsel zurück. Dort rubbelte ich mir die Haare mir einem Handtuch trocken und schenkte ich mir einen Whiskey ein. Die Aufzeichnungen waren feucht geworden und so fönte ich sie trocken und spannte sie zur Sicherheit zwischen zwei Leinen. Die Regentropfen schlugen gegen das Fenster der Kapsel und es schien als würde der Regen auch diesmal länger - vielleicht Tage - anhalten. (Und warum laufen die Regentropfen da nicht gerade herunter? Weil: „ Zwischen Tropfen und Scheibe entsteht eine Grenzflächenspannung, das heißt, auf die Wassermoleküle am Rand des Tropfens wirkt einerseits die Anziehung der benachbarten Wassermoleküle (Kohäsionskräfte) und andererseits die Anziehung der Moleküle der Glasoberfläche (Adhäsionskraft).“ Ach so). Ich ließ den Telekommunikatior Musik auflegen, schenkte mir ein zweites Glas ein und gab mich meiner düsteren Stimmung hin. Sail…ich nehme an, dass die üblichen Klatschkanäle Dir mein Verschwinden schon zugetragen haben. Ich bin jetzt gut seit einer Woche hier und leide wohl unter den Wehwehchen, die man in einer neuen Umgebung erwarten kann. Was mich jedoch beunruhigt: Ich habe nicht nur keine Namen für das, was um mich herum passiert (das war anzunehmen), vielmehr habe ich auch keine Sprache für das, was in mir passiert. Das macht mir Angst.
Wie Du dir denken kannst, schreibe ich nicht ganz uneingennützig. Bitte versuche den Betrag von 10.000 Hobedos von meinem Konto abzuheben und transferiere den Betrag auf die Kapsel. Ich habe keine Ahnung, ob das als Zahlungsmittel akzeptiert wird, aber die Vorstellung völlig mittellos zu sein, beunruhigt mich.
Und, Du, schreibe mir von deiner Lektüre. Obwohl ich hier eine ganz herrliche Bordbibliothek habe, habe ich noch nicht eine Zeile gelesen - ist das zu fassen? Bevor ich abhob las ich eine Abhandlung über die Geschichte des mittleren Raumes. Ich erhoffte mir, Hintergründe zu der großen Wanderungsbewegung zu erhalten. Wie sind denn die Verhältnisse zur Zeit? Ach, was frage ich. Bis auf weiteres warten wir also geduldig darauf, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Revolution gebären möge - aber seien wir ehrlich: Da jebiert ja jar nüschst. Oh. Und schau, der Kapitalismus treibt eine schöne Blüte nach der nächsten! Schreibe mir bald, ja? Das wird helfen, meinen Kopf bei Verstand zu halten.
Gruß und Kuss K.
I made it in my mind because… ——— This is how an angel cries Blame it on my own sick pride Blame it on my ADD, baby! - Sail! —— Maybe I'm a different breed Maybe I'm not listening So blame it on my ADD, baby - Sail!